MARIA GRIMME.
Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie am Vortage des 20. Juli zu einer Veranstaltung, die im Gedenken an den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine ärgerliche und nachgerade beschämende Lücke füllen hilft: diese Lücke ist unsere relative Unkenntnis dessen, was Frauen im Kampf gegen den Nationalsozialismus geleistet haben.
Das traditionelle Rollenbild von Mann und Frau, das der Nationalsozialismus noch verstärkte, wies dem Mann die politische Arbeit und der Frau den Platz am Herd zu. Dieses Bild ist auch in der Erforschung des Widerstandes noch nicht völlig überwunden. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass die Geschichtsforschung an den Universitäten bis heute eine von Männern beherrschte Domäne ist.
Sicher gab es auch sachliche Gründe dafür, dass unser öffentliches Bild der Frauen im Widerstand unterbelichtet war: Fast alle, die am 20. Juli 1944 handelten, waren handlungsfähig als Inhaber von verantwortlichen Positionen - und die waren den Frauen verschlossen. Dennoch spielten auch bei der geistigen Vorbereitung des 20. Juli Frauen eine wichtige Rolle - denken wir nur an die Frauen der Mitglieder des Kreisauer Kreises und an den Kreis um Johanna Solf. Oft konnten Regimegegner nur in solchen privaten Zirkeln noch frei sprechen und Widerstand gedanklich vorbereiten. Denn das gesellschaftliche Leben war „gleichgeschaltet“ - und das bedeutete nichts anderes als die Zerschlagung jeder unabhängigen politischen Organisation.
Aber schon Jahre vor dem 20. Juli, ja schon vor dem Kriege, starben Frauen auch unter dem Henkersbeil wie die junge Kommunistin Lilo Hermann, die vor der Aufrüstung Hitler-Deutschlands warnte.
In dem immer noch viel zu wenig erforschten und viel zu wenig bekannten sozialistischen und kommunistischen Widerstand der frühen dreißiger Jahre leisteten viele Frauen als Verteilerinnen von Flugblättern und Kurierinnen von illegalen Schriften aus dem Ausland ihren oft lebensgefährlichen Beitrag. Das heute vorzustellende Buch füllt gerade in diesem Bereich zahlreiche Wissenslücken.
In der „Roten Kapelle“ schließlich standen und starben zahlreiche Frauen, die aus humanistischer und politischer Überzeugung gleichberechtigt gegen die Gewaltherrschaft kämpften. Ich nenne nur Mildred Harnack, Maria Terwiel, Liane Berkowitz und die aus ihrem katholischen Glauben heraus handelnde Eva-Maria Buch.
Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die von ihr gemeinsam mit der Freien Universität Berlin betriebene Forschungsstelle für Widerstandsgeschichte unter Leitung von Peter Steinbach haben sich um die Erforschung dieser Widerstandsgruppe Verdienste erworben, nachdem deren Bild über Jahrzehnte von politischen Zwecklügen in West und Ost entstellt war.

Wiederum sind es die Gedenkstätte und die Forschungsstelle, die das heute vorzustellende Werk über „Frauen gegen die Diktatur“ durch eine wissenschaftliche Tagung Ende 1993 ermöglicht haben.
Frauen im Widerstand werden ab heute in der Gedenkstätte nicht nur dokumentiert, sondern auch in einer anderen, in der Dimension der bildenden Kunst präsent sein. Die Gedenkstätte empfängt heute als Dauerleihgabe ein Gemälde der Malerin und Widerstandskämpferin Maria Grimme. Ihr Mann Adolf Grimme war preußischer Kultusminister und später ebenfalls im Widerstand. Maria Grimme wurde als Angehörige der „Roten Kapelle“ verhaftet und skizzierte im Polizeigefängnis am Alexanderplatz eine Szene, die sie kurz nach dem Kriege in Öl ausführte. Insofern ist das Bild zugleich Kunstwerk und zeithistorisches Dokument. Wir danken den Angehörigen der Malerin für diese großherzige Gabe, die nachher von Frau Zylmann, der Tochter von Adolf und Maria Grimme, enthüllt werden wird.

Sie werden sehen, meine Damen und Herren, dass dieses Bild über die Dokumentation hinaus Gefühle nacherlebbar macht, die jene Widerstandskämpferinnen durchlebten. Da ist das Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins, aber da ist auch das Gefühl der Hoffnung: es scheint sich in dem hellen Licht im Zenit des Bildes auszudrücken - ein Licht, das machtvoll und unaufhaltsam durch die Gitter des kleinen Gefängnisfensters dringt.
Die schwangere Frau, die wir auf dem Bilde sehen werden, ist die eben erwähnte Liane Berkowitz. Sie wurde bald darauf in Plötzensee ermordet. Die von Maria Grimme künstlerisch dargestellten Gefühle der Widerstandskämpferinnen drückt in anderer Weise Liane Berkowitz aus, aus deren Kassiber vom 28. Februar 1943 ich zum Schluss zitieren möchte:

Wenn man all das denkt und die Sonne so scheint wie jetzt,
wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an
den Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein
schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muß.
Leider ist es die raue Wirklichkeit. Ich habe früher nie
geglaubt, daß das Leben so schwer ist, trotzdem ich mich
mit allen Fasern des Herzens daran klammere. ... Ich denke
oft, wie schön es im Sommer immer in Riesa war.

Soweit Liane Berkowitz. Was machen wir daraus? Gedenken an unsere Vergangenheit bedeutet Verpflichtung für die Gegenwart. In der Demokratie fordert uns das nicht den Einsatz unseres Lebens ab, wie den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern von damals, aber unser politisches Engagement für die Verfolgten - besonders jene, denen die Flucht in unser Land gelungen ist. Gedenken ohne politisches Engagement ist leer. Politisches Engagement ohne Gedenken aber ist blind. Wer Gedenkstätten wie Sachsenhausen und Ravensbrück verfallen lässt, trifft eine gefährliche politische Entscheidung. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich ihrer gesamtstaatlichen Mitverantwortung für diese Orte unserer geschichtlichen Identität bewusst zu sein und entsprechend zu handeln.



Source: https://www.stiftung-20-juli-1944.de